Liebe Leserinnen und Leser!
„Sehen und gesehen werden!“ Das ist immer wieder ein Werbespruch. Auch Menschen handeln danach: Aussehen, Kleidung, Status, Straßenverkehrsregeln – oft spielt das eine Rolle, vor allem, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Das „Sehen“ hat für die meisten Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Von unseren fünf Sinnen dominiert vor allem das Sehen. Bis zu 70% unserer Sinnesleistungen wird von den Augen erfüllt. Ganz zu schweigen vom Sehen auf Bildschirme der Computerwelt, des TV, der Smartphones oder in Ausstellungen. Deshalb kommt das „Sehen“ für uns im Leben in zahlreichen Variationen vor: Aussehen, Vorhersehen, Schwarzsehen, Umsehen, Nachsehen, Ansehen, Übersehen, Wegsehen, Hinsehen und viele andere Verknüpfungen. Und alle diese Sehens-Worte haben selbst noch eine vielfältige Bedeutung. Sehr markante Unterschiede ergeben sich z.B. aus dem „Wegsehen“ und dem „Hinsehen“. Das „Ansehen“ kann das in-die-Augen-Sehen oder den öffentlichen Status eines Menschen bedeuten.
Die Jahreslosung 2023 „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) lässt viele der Bedeutungen des Sehens anklingen. Sehen und gesehen werden, bekommen eine menschliche und persönliche Bedeutung zunächst für Hagar, eine Frau, deren Ansehen am Boden ist. Sie wird als Geringe angesehen, als Mensch am Rand einer Familie. Das erste Buch Mose erzählt davon in den Kapiteln 16 und 21. Diese Familie hat eine komplizierte Geschichte und Hagar sucht ihren eigenen Weg. Sie muss mit Neid und Stolz, mit Vorurteilen und Eifersucht umgehen. Es sind zuerst ihre Worte, die für uns zur Jahreslosung werden. Hagar gibt Gott einen Namen, der zeigt, wie Gott handelt: Gott sieht mich – mich Übersehene – mich Geringe – mich ungerecht Behandelte – mich als ein Mensch in Not – mich als Außenstehende – mich, die ich im Schatten bin.
Wir alle sind mit solchen Geschichten unterwegs, mit Erfahrungen seit der Kindheit oder mit Erlebnissen aus der Gegenwart, die für uns mit dem Sehen und Gesehen werden zu tun haben. Dazu gehören: Nur nach dem Aussehen beurteilt zu werden, Übersehen zu werden oder die Erfahrung gemacht zu haben, dass niemand meine Arbeit sieht, meine Mühe und meinen Einsatz würdigt. Manche haben etwa als Kinder erfahren, wie das Hin-Sehen Gottes instrumentalisiert wurde. Das ist eine schwere Bürde, wenn das noch jemand im Ohr hat: „Gott sieht ganz genau, dass du deinen Teller nicht aufgegessen hast.“
Die Jahreslosung sagt mir: Gott ist ganz anders. Er sieht mich. Ganz persönlich. Er sieht mich an. Dabei ist er niemals kleinkariert und zählt die übrigen Nudeln auf meinem Teller. Wie im Segen blickt er mich an: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich“. Das gibt mir Mut und Zuversicht. Ich weiß, dass mein Leben nicht vergebens ist, sondern Gott würdigt mich und mein Tun. In der Jahreslosung liegt der Trost für alles Erlittene und Hoffnung für alles, was kommen wird.
Der Psalm 139 beschreibt das Sehen Gottes in Worten und Bildern und lässt daraus ein Gebet werden. Deshalb könnte eine kurze Andacht zur Jahreslosung im Alltag folgende einfache Form haben: 1. Das Lesen der Jahreslosung, 2. Das Lesen von 1. Mose 16,1-15, 3. Ich halte nach einem Fleckchen Himmel Ausschau und betrachte es, 4. Das Beten von Psalm 139 und 5. Das Lesen der Jahreslosung als Abschluss.

Möge Gottes Wort uns mit Segen im neuen Jahr 2023 begleiten!
Ihr Christian Mai, Pfarrer